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AM ENDE DES ZEITALTERS Eine Geschichte aus dem „Mission Corpus Christi – Universum“ von ANDRÉ VIEREGGE (mit Marten Munsonius)
PROLOG
Im Antlitz des Todes stieg eine blutrote Sonne empor. Die ersten Vorläufer eines weiteren Tages, der sich einreihte in die endlose Konstanz langsamen Siechtums bis zur finalen Erlösung von allen Leiden. Gespenster zerfetzter Wolkenleichen jagten von Nord nach Süd über das Schlachtfeld des Himmelszeltes und trieben ein hämisches Spiel mit Licht und Schatten auf dem regennassen Beton. Die Welt gefangen in Schwarz und Rot, dem Abgrund zur Hölle näher, als dem Tor zum Himmel. Der nahende Tag vertrieb die lichtscheuen Kreaturen der Nacht von den Gehwegen der labyrinthischen Straßenschluchten, aus denen kein Faden den Weg heraus in die Arme der Ariadne weisen konnte. Auf Lebenszeit gefangen in einem perversen göttlichen Spiel, welches sogar die Grenzen der Komödie sprengte. Dantes Inferno in der Überresten westlicher Konsumgesellschaft. In den Autowracks mit ihren fast unzerstörbaren Scheiben aus Verbundplastik reflektierte sich das tiefe Rot wie ein düsteres Nachglimmen der schmutzigen Bombe über Mexiko- City, deren Erinnerung auch zwanzig Jahre später noch immer einen gellenden Aufschrei des Entsetzen durch die Herzen der Millionen von Hinterbliebenen und Zeitzeugen der Massenmedienkultur schneiden lässt. Ein leichter Nieselregen wehte durch die öden Gassen. Keine Menschenseele war zu sehen, auch nicht in der Kirche am Ende der Straße. Leer und verlassen hatte sie die Zeit ihrer Blüte seit Jahrzehnten hinter sich und harrte nun mit jedem Tag des erlösenden Schlages der Abrissbirne. Doch er blieb aus. Von dem löchrigen Dach aus flüchtete sich das Wasser in winzigen Wasserfällen hinab in die Dunkelheit verrottender Beichtstühle und brüchigen Kanzeln. Durch die Ritzen der alten Holzdielen tropfte es noch ein Stockwerk tiefer in den Hauptraum des verlassenen Kirchenschiffs, um sich wieder in kleinen Bächen zu sammeln und den schier unendlichen Weg ziellos fortzusetzen. Erst am tiefsten Punkt angelangt, würde es seine Reise beenden und verharren, bis es schließlich spurlos verginge. Besser konnte man auch den Zustand der Menschen in jener Abstellkammer der zivilisierten Welt nicht beschreiben. Sie waren auf der untersten Stufe der Existenz angelangt und verharrten in einer todähnlichen Starre, bis Charon sich letztendlich erbarmte, sie auf die andere Seite des Styx überzusetzen. Es roch nach Feuchtigkeit und Moder, nach aufgequollenem Holz und nassen Lumpen. Die sakralen Hallen waren verlassen. Ein Teil der Bänke war umgestürzt, zerbrochen, durcheinander gewirbelt und angehäuft. Irgendwann, vor langer Zeit, wollte jemand dort drinnen ein Feuer machen. Schwarzer Ruß auf einstmals weiß gestrichenem Holz. Zwischen Altar und dem Beichtstuhl, nahe einer saftlosen Steckdose, befand sich ein großes Loch in der Wand . So groß wie ein Taufbecken. Wasser und mitgeschwemmte Sedimente gluckerten daraus hervor, und verströmten einen Geruch, wie ihn nasser Schlamm oder faulende Pflanzen erzeugen. Aber dann war da noch etwas. Ein scharfer, ekelhaft metallischer Gestank. Noch beherrschten Finsternis und Kälte den überwiegenden Teil des Raumes. Kein Laut. Nur das Plätschern von der Decke herab. An einigen Stellen vermischte sich das Regenwasser mit einer anderen Substanz. Das Kreuz über dem Altar war halb aus der Deckenverankerung gerissen, hielt sich aber noch. Mit arglistiger Gier drängten sich als erste die Ratten aus ihren zahlreichen Unterschlüpfen im maroden Fundament des Gotteshauses. Sie huschten mit einer kleinen Vorhut über den Boden zwischen den zersplitterten Holzbänken hindurch. Am Altar enterte eine junge Ratte mit einem verkümmerten Schwanzstummel ein Stück Seil und kletterte daran hoch. Bereits auf halber Strecke riss das verschimmelte Material. Unter schrillem Fiepen stürzte der wagemutige Nager ab und platschte auf die kalten Stufen vor dem Altar, wo er halb betäubt liegen blieb. Wenig später löste sich etwas von dem Kreuz und schlug mit einem trägen Schmatzen auf dem Boden auf. Plötzlich schienen die Ratten in einen dionysischen Rausch zu verfallen und strömten in Heerscharen herbei. Es dauerte nicht lange, dann war der Altar erobert. Irgendwie schafften die kleinen Biester es, die bereits kalten Eingeweide zu packen, welche dem Mann am Kreuz vor dem Gesicht hingen. Einer der grauschwarzen Brut krallte sich an dem zerrissenen Hemd fest, und für einen Moment sah es so aus, als würde der Mann mit einem Kopfschütteln versuchen, seinen Darm beiseite zu wischen, um das gesamte Kirchenschiff vor sich überblicken zu können. Nun sprang ein besonders flinker Nager dem Toten mitten ins Gesicht und verbiss sich in die dunkelblaue Zunge, die zwischen einer gelichteten Reihe von Zahnstummeln wie ein nasser Lumpen leblos heraushing. Es würde schwierig werden, den Mann zu identifizieren. Sein Gesicht war eine einzige breiige Maße aus rohem Fleisch und bleichen Stellen kalter Haut, inmitten von Inseln aus violetten Hämatomen. Zwischen den halb geschlossenen Augenlidern hatte sich eine Menge inzwischen verkrusteten Blutes gesammelt. Von den Wolken befreit, fiel auf einmal goldgelbes Licht durch die verschmutzten Scheiben auf den verstümmelten Leib und umgab ihn mit einem heiligen Strahlenkranz. In einem Spiel von Engelsherrlichkeit spiegelte sich der Schein auf dem Nass des Bodens. Die ganze Szenerie wirkte übernatürlich und unwirklich wie ein ins Groteske verkehrtes Sakralbild Karl Friedrich Schinkels. Da plötzlich schien der mit dem Kopf voran an das alte Holzkreuz genagelte Mann mit einem verkrampften Zucken aufzuerstehen. Doch es waren nur die Ratten, die sich in seine geöffnete Bauchhöhle vorgearbeitet hatten. Als der erste Obdachlose die Tür weit genug geöffnet hatte, um den nunmehr vom göttlichen Wesen durchdrungenen Raum des Kirchenschiffs mit den Augen zu durchmessen, wünschte er sich die letzten Stunden unter einem verregneten Himmel zurück, als wäre es das verlorene Paradies gewesen.
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U.D.S.E. Electronic Mailservice M. 16.09.2070 - 22.35 From: Morgan Hellwein To: Francesco Maccachio: Subject: Az-09-10-2071-19576-P.D.L.T.
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Dienstag, 17. September, 8.58: Nahezu lautlos hob die Druckluft den Fahrstuhl empor bis in die 43. Etage. Nur ein kurzes Glockenklingeln, welches die neoklassische Fahrstuhlmusik für einen Wimpernschlag unterbrach, verhieß das Ende der Fahrt. Im Mantel kalten Eisens offenbarten sich zu allen vier Seiten Sicherheitstüren. Francesco Maccachio sah sich um. Welche der Türen würde wohl öffnen? Jede von ihnen führte zu einer anderen Wohnung. Er wollte nicht den ersten Eindruck verloren geben, indem er wie eine Figur aus einer Comedyserie die verkehrte Richtung fixierte, während die schweren Metallplatten hinter oder neben ihm zur Seite glitten. So war es eine große Erleichterung als noch rechtzeitig winzige elektronische Namenschilder neben den Retinascannern entdeckte. Hellwein! Da stand es, gerade noch rechtzeitig, bevor sich ihm der Eingang in das Appartement erschloss. Schon in diesem Moment erwies sich seine Sorge ohnehin als unbegründet, denn niemand erwartete ihn. Vorsichtige Schritte führten ihn in die Wohnung hinein. Er befand sich in einer Art Vorraum, vom welchem eine Aluminiumtreppe auf eine etwa drei Meter höher liegende Wohnebene führte nach oben führte. Nur einige Jacken und Mäntel hingen an den Haken einer Gitterkonstruktion, welche wohl den Zweck einer Garderobe erfüllen sollte, aber eher an eine abstraktes Kunstwerk aus den Anfängen des Jahrtausend erinnerte. Ein übertrieben großer Spiegel, von einem matt bläulichen Licht angestrahlt, gestattete es Maccachio, noch einmal den korrekten Sitz seines Mantels zu überprüfen. Alles war in Ordnung, obwohl er sich bewusst war, mit seiner abgetragenen Hose und den unmodischen Sportschuhen, die unter dem Saum des grauen Trenchcoats garstig hervorblickten, dennoch kein seriöses Auftreten zu besitzen. Er fuhr sich mit der Hand noch kurz durch die wirren schwarzen Haare, die einen jeden Hairstylisten erschaudern lassen würden, um dann entschlossen die Stufen empor zu steigen. Ein unhöflicher Hausherr konnte auch nicht mit höflichem Verhalten seiner Gäste rechnen. Hinter ihm schlossen die Türen des Fahrstuhls ebenso lautlos, wie sie geöffnet hatten. Am Ende der Treppe erstreckte sich ein hallenartiger Raum von der Größe einer mittelgroßen Turnhalle. Ein im kalten Neonlicht glänzender schwarzer Marmorimitatboden, verlieh dem Raum keine geringere Gemütlichkeit, als die einer Bahnhofshalle. Die Jalousien der riesigen Fensterseite waren allesamt heruntergelassen worden. Nur einen winzigen Spalt geöffnet, wagte sich selbst das abgebrühte Tageslicht der Großstadt kaum durch sie hindurch. Die Gummisohlen seiner Schuhe quietschten auf dem geschliffenen Dunkel, doch noch immer schien niemand seiner Gegenwart gewahr zu werden, oder gewahr werden zu wollen. An der rechten Wand erstreckte sich über mehrere Meter hinweg ein Meerwasseraquarium mit dunkelblau bis violett angeleuchteten Felsen, Korallen und Seeanemonen. Inmitten des Raumes stand ein mächtiger Schreibtisch. Er schien in einem Stück aus dem Boden herausmeißelt, und ein jeder Besucher wurde von einer Reihe antiker Statuen und Skulpturen geradlinig zu ihm geleitet. Es war, als würde man durch einen riesigen Thronsaal schreiten, um am anderen Ende den Souverän um eine Audienz zu bitten. Doch auf dem Ledersessel hinter der großen Tischplatte saß niemand. Auf einem dreidimensionalen Display sah der Maccachio lediglich Bilder, Zahlen und Zeichen in einem schier unendlichen Strom aufblinken und wieder erlischen. Was sollte das alles? Sein Blick streifte weiter durch das Dunkel jenes unheimlichen Domizils. Er entdeckte noch eine weitere Treppe. Ebenfalls aus Aluminium, drehte sie sich korkenziehend um die eigene Mitte nach unten. Vermutlich befanden sich dort unten Schlafzimmer und Bad, denn eine Küche nebst gut ausstaffierter Bar entdeckte er am anderen Ende des Marmorsaales. Daneben eine Couchgarnitur und einen weiteren großen Sessel, beides ebenfalls aus schwarzem Leder. Ein Videobeamer warf verschiedene dreidimensionale Fernsehprogramme an die Wand. Kein Ton war zu hören. Francesco schlängelte sich, zwischen weiteren Skulpturen und kleinen Regalen mit einem Allerlei scheinbar okkulter Gegenstände hindurch, auf die Sitzecke zu, welche nicht schwarz, sondern nachtblau war. Die Dunkelheit in dem Raum hatte seine Augen getäuscht. „Nicht auf den Kreis treten!“, dröhnte plötzlich ein Stimme aus dem Sessel hervor und verhallte in den Weiten des Saales. Francesco war zusammengezuckt und instinktiv stehen geblieben. Als er vor sich auf den Boden blickte, erkannte er dort einen Kreis von roter Farbe, der von verschiedenen Geraden in geometrischen Exaktheit durchschnitten wurde. „Wollen sie damit den Teufel beschwören?“ Inzwischen war der Mann ziemlich verärgert. Er hasste die Arroganz jener Person, deren Antlitz er noch nicht einmal ansichtig geworden war. Er kam sich geschulmeistert vor, wie es ihm seit seiner Studienzeit nie wieder geschehen war. „Nein.“, der Mann in dem Sessel hatte sich erhoben. „Ich versuche damit, zu ihm zu gelangen.“ Er setzte ein unverschämtes Grinsen auf. „Nach Hause.“ „Man hat mich vor ihrem schwarzen Humor gewarnt.“ „So, hat man das?“ Zwei goldene Augen blitzten auf. Maccachio musterte sein Gegenüber genau. Morgan Hellwein war eine Erscheinung, die durchaus auch einem aktuellen Modekatalog hätte entstiegen sein können. Er war groß, durchtrainiert, und seine Gesichtzüge traten hart und markant unter dem kurzen, silbergefärbten Haar hervor. Durch die schwarzen Stoppeln eines Dreitagebartes hindurch, entblößte sein hämisches Grinsen eine Reihe strahlend weißer Zähne. Das Auffälligste aber waren seine goldenen Augen, die aus seinem bleichen Antlitz wie verglühende Kometen herausstachen. Francesco war sich sicher, dass es sich bei diesem unübersehbaren Merkmal nicht um Colorlinsen handeln konnte. „Sie sind ein Klon. Hab ich recht?“, fragte er forsch, da er für seine sonst so höfliche Zurückhaltung bei diesem Mann keinen Anlass sah.. „Genesis Enterprises Forschungsreihe 04102052-M-013. Einziges noch lebendes Exemplar.“, erwiderte Morgan sachlich wie eine Maschine. „Einziges noch lebendes Exemplar?“ Maccachio zog die rechte Augenbraue hoch. Ein Reflex, den er selbst kaum noch wahrnahm. „Es hatte ein wenig gedauert, bis man erkannte, dass unsere genmanipulierten Körper einige zusätzliche Anreize brauchten, um all ihre Funktionen aufrecht erhalten zu können.“ Hellwein zog eine kleine verchromte Schatulle hervor, klappte den Deckel auf und hielt sie seinem Gast entgegen. Dieser erkannte scheinbar gewöhnliche Zigaretten. „Sind ein bisschen angereichert.“, erklärte Morgan, indem er sich eine ansteckte. Auf den fragenden Blick seines Gegenübers hin fuhr er fort. „Feringita Elodianum. Besser bekannt als Nemesis.“ „Nemesis? Das ist ein Nervengift. Auf Dauer ist es tödlich.“ Der Klon sah abwesend auf die Leinwand. „Daher wohl auch der Name.“, stellte Maccachio weiter fest. „Die Todesbotin der antiken Götter.“ Hellwein ging hinüber zur Bar. „Und sie? Sie sind Jesuit?“ Francesco nickte. „Wieso wird wohl ein Jesuitenpriester in meine Einheit versetzt?“ Der Klon schien inzwischen fündig geworden zu sein und schenkte sich ein Glas einer nicht näher bestimmbaren Flüssigkeit ein. „Ich denke mal, sie trinken nicht.“ Maccachio ignorierte die Unhöflichkeit. „Ich bin kein Priester. Nach meinen Theologiestudium in Florenz, Weimar und San Sebastian ging ich zum Oculus Dei. Und ich trinke nur mit Menschen, die ich schätze.“ „Das Auge Gottes.“ Morgen Hellwein schien das erste Mal beeindruckt. „Das ist der Geheimdienst des Vatikan, nicht wahr?“ Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Schon gut.“, winkte der Klon ab und wandte sich wieder seinem Glas zu. „Ich trinke auch nur mit Leuten, die ich schätze... Deshalb trinke ich immer allein.“ „Dann sind wir uns ja einig.“ „Das sind wir, Partner.“ „Wäre es jetzt nicht an der Zeit, mir zu sagen, dass sie keinen Partner wollen, und immer allein arbeiten?“ „Sie haben wohl zu viele 2D-Streifen aus dem letzten Jahrhundert gesehen, wie? Ich habe sogar gern einen Partner. Dann hat man jemanden, der vielleicht die Kugel abkriegt, die für einen selbst bestimmt war.“ Ein weiteres Mal pflügte sich ein hämisches Grinsen durch seine Gesichtszüge. „Glaube, es ist an der Zeit, mich in die Einzelheiten einzuweihen.“ Der Mann aus dem Vatikan ging zu der Couch hinüber und ließ sich ungebeten auf dem weichen Leder nieder. Dann beobachtete entspannt, wie Morgan Hellwein zurück kam und sein Glas abstellte. Mit einer schnellen Armbewegung warf ihm der Klon eine Aktenmappe zu, die auf dem abstrakten Glasgebilde gelegen hatte, welches er wohl als Tisch erworben hatte.“ „Die Propheten der letzten Tage! Eine Sekte religiöser Fanatiker, die immer mehr Anhänger findet. Wir beobachten sie schon eine geraume Zeit, und die Entwicklungen sind mehr als erschreckend. Für den Verfassungsschutz gelten sie noch als Geheimbund, aber ihre Einflusssphäre wächst. Es ist schon jetzt kaum noch nachzuvollziehen, wie weit ihre Arme reichen.“ „Wie ist es möglich, dass sich so ein Netz nahezu unbemerkt um die UDSE legt?“ „Wir können uns glücklich schätzen, wenn es nur um die Union Demokratischer Staaten Europas geht. Es besteht der begründete Verdacht, dass ihr Schatten ebenfalls bereits Amerika und Vorderasien verdunkelt.“ „Aber wie ist das möglich?“, wiederholte der Jesuit seine Frage. Morgan hielt einen Moment inne. Dann ließ er sich in seinen Sessel zurückfallen, bevor er fortfuhr. „Wie konnte sich am Ende des letzten Jahrhunderts das Al-Qaida Netzwerk so weit ausbreiten? Wieso tat niemand etwas gegen die bewaffneten Arme der Nevada Cobra Milita und der Oklahoma Aryan Victory Milita, bevor sie in ihrem gemeinsamen Todesmarsch auf Washington 2038 über 2.000 Muslime ermordeten? Warum griff die Nationalgarde erst viel zu spät ein? Oder warum konnte niemand Phillippe Farreras und seine Jünger am 11.09.2051 von dem Abwurf der schmutzigen Bombe auf Mexiko City abhalten?“ „Aber von all diesen Gruppierungen wusste man schon vorher.“ „Und man tat nichts. Das ist es ja. Die Verwaltungsapparate rotieren, es wird observiert, Akten werden angelegt, aber es passiert nichts. Die westlichen Demokratien waren zu langsam. Unser Job ist es diesmal schneller zu sein.“ Die Stirn Maccachios legte sich in Falten. „Wie können wir...?“ „Psst!“, zischte Morgan plötzlich. „Heidrun, Lautstärke Kanal 17 auf 8. Vollbild.“ Francesco konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Heidrun war vermutlich das Stimmaktivierungscodewort für die 3D-TV Computerkontrolle.“ Eines der vielen kleinen Bildausschnitte auf der Leinwand wuchs an, bis es die anderen überdeckte. Die immer gleiche Stimme einer Nachrichtensprecherin erklang: „... immer wieder Anlass zu Spekulationen gewesen. Vom Premierminister der Union Demokratischer Staaten von Europa wurde die Existenz eines solchen Raumschiffes bis zum heutigen Tage stets dementiert. Berichten der Nachrichtenagentur E.N.T. zufolge, sind nun jedoch die ersten Informationen aus zuverlässigen Quellen über erste Tests des neuen Antriebsystems durchgesickert. Das Büro des Premierministers schweigt zu den Anfragen. Dr. Jakob Erikson vom Institut für Raumfahrt und Raumfahrttechnologie in Göteborg betonte gegenüber...“ „Lautstärke auf 0, Kanal 17 rückführen.“, befahl der Mann mit den goldenen Augen. „Ich weiß es ganz genau. Die Zeit der interstellaren Raumfahrt beginnt. Die können bestreiten, was sie wollen, aber spätestens in zehn Jahren können wir unser Sonnensystem verlassen.“ „Nur wohin wird uns der Weg führen? Die Besiedlung des Mars ist noch Embryonalstadium. Was sollen wir da in anderen Galaxien?“ „Der Mars?“ Hellwein prustete verächtlich. „Ein toter Klumpen Staub. Das Terraforming- Projekt wird noch Jahrzehnte dauern. Solange wäre die Ewigkeit in der Hölle, dem Leben dort immer noch vorzuziehen. Die Zukunft der Menschheit wird sich nicht in unserem Sonnensystem entscheiden. Andere Planeten, vielleicht sogar andere Völker, werden die Geschichte der Menschheit revolutionieren.“ „Fragt sich nur in welche Richtung.“ „Egal in welche Richtung. Hauptsache es ändert sich etwas.“ Der Klon nahm einen großen Schluck aus seinem Glas und ließ sich diesen für einige Augenblicke auf der Zunge zergehen. „Die Welt geht unter, Francesco.“ Der ehemalige Agent war überrascht über den plötzlichen Wechsel der Anredeform, hörte jedoch gespannt weiter zu. „Die Welt brodelt wie ein Vulkan. Er kann jede Sekunde ausbrechen, um die Menschheit zu vertilgen. Religiöse Konflikte durchziehen die Lande wie Magmaströme. Verborgen unter einer dicken Schicht, scheinen sie nicht zu existieren oder zumindest nicht die gesamte Menschheit zu bedrohen, doch ihr Vernichtungspotential überschreitet die Wirkung jeder Wasserstoffbombe. Die Hungersnöte seit den 40er Jahren, die Arbeitslosigkeit, das Leben in den Slums im kalten Schatten des Wolkenkratzers eines Megakonzerns, haben die Menschen selbst im Westen zurück in die Fänge der geistlichen Führer getrieben. Seit Jahrhunderten hat die katholische Kirche nicht mehr so viele Gläubige und vor allem blind Gläubige gehabt wie heute. Und für alle anderen bieten die Sekten ein vergiftetes Auffangbecken. Glaubt einer das Heil zu erreichen, indem er Menschenherzen frisst, dann gibt es eine Sekte dafür. Glaubt einer, er müsse dafür kleine Kinder missbrauchen, dann gibt es eine Sekte dafür. Glaubt einer, er müsse seinen mongoloiden Gott in den Arsch ficken, dann gibt es eine beschissene Sekte dafür.“ Der Klon atmete tief durch, bevor er etwas leiser fortfuhr. „Mag sein, dass der letzte interlaterale Krieg schon über 50 Jahre her ist, doch ich sehne diese Zeiten manchmal innigst zurück. Damals wusste man wenigstens, wo die Front verläuft. Auf der einen Seite waren die Freunde, auf der anderen die Feinde. Und heute? Sehen sie sich um! Woher wissen sie, ob der Mann hinter ihnen im Supermarkt nicht sie und alle anderen mit einer Bombe in die Luft sprengt, um auf irgendeinen verdammten Missstand aufmerksam zu machen, den ihm sein spiritueller Oberguru, Priester, Geist oder auch sein idiotischer Gott eingeredet hat. Was soll man tun? Jeden, der irgendwie fremdländisch aussieht, gleich umlegen oder jeden der irgendeine Art von Amulett, Kreuz oder Ring trägt? Von allen Möglichkeiten ist diese noch die Beste.“ Morgan griff hinter sich und zog zwei Pistolen hervor, die er dort in Halftern an seinem Gürtel trug. Für einen Moment betrachtete er sie, dann legte er die beiden Waffen vor sich auf den Tisch. „Walther P15, 11mm, 12 Schuss Schrapnelle und Federated Arms Purgatory, 9mm, 8 Schuss panzerbrechend. Ich bin gern auf jede Art von Freak vorbereitet.“ „Scheint als wäre unsere Aufgabe nicht ganz leicht.“, stellte der ehemalige Papstagent fest. „Ist es nicht langsam an der Zeit, mir zu sagen, warum ich zu ihrer Einheit abkommandiert wurde? Oder soll ich das ganze Ding erst lesen?“ Er winkte mit der Akte, die Morgan ihm gegeben hatte. „Ich denke es ist jetzt wirklich Zeit dafür.“ Die goldenen Augen blitzen. „Tragen sie eine Waffe?“ Francesco war für einen Moment überrascht, hatte er doch mit einer längeren Erklärung gerechnet.“ „Ja, eine 6mm Spinelli.“, gab er schließlich zur Antwort. „Spinelli? Nie gehört. Trägt man das im Vatikan, um Tauben von den Kirchtürmen zu schießen?“ Morgan war erneut aufgestanden und zu seinem Schreibtisch gegangen. Als er zurückkehrte, hatte er eine silberne Halbautomatik in der Hand.“ „Ich hatte so was befürchtet. 6mm sind einfach zu wenig. Hier braucht man Power.“ Ohne viele Umschweife warf er Maccachio die Waffe zu. „Willkommen im SEK 13 für Sekten und Religiösen Fanatismus.“ Francesco betrachtete die Waffe von allen Seiten. Der Verschluss glitt leichtgängig zurück und arretierte fehlerfrei. Die Pistole war in einem hervorragenden Zustand. Ein kurzes Klicken, und das Magazin glitt aus dem Griffstück. Er sah den Klon fragend an, woraufhin dieser ihm ein Päckchen mit Munition nebst eines Ersatzmagazins zuwarf. „Woher die Notwendigkeit einer solchen Waffe?“, fragte der Agent aus dem Vatikan, während er beide Magazine aufmunitionierte. „Sie würden nicht glauben, wie fanatisch manche Spinner weitermachen, nachdem man ihnen eine verpasst hat, nur weil sie glauben, im Sinne ihres Gottes zu heilen und so als Märtyrer in sein Reich einzugehen!“ „Wer steckt hinter dieser Art von Gehirnwäsche?“ „Gehirnwäsche?“, Morgan lacht. „Die christliche Lehre geht genau so vor. Im Alten Testament verlangt Gott von seinem Diener Abraham seinen liebsten Sohn um seinetwillen zu ermorden und ihm obendrein noch als Opfer darzubringen. Ist es da ein Wunder, dass die Menschen im Bann der Religion zur Unmündigkeit und zum blinden Gehorsam degenerieren?“ „Doch da rief ihm der Engel des Herrn vom Himmel her zu und sprach: Abraham, Abraham! Und er sagte: Hier bin ich! Und er sprach: Strecke deine Hand nicht aus nach dem Jungen, und tu ihm nichts! Denn nun habe ich erkannt, dass du Gott fürchtest, da du deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast. 1. Buch Mose, Kapitel 22, Vers 11 und 12.“, versuchte Francesco zu erklären. „Macht es das besser? Abraham war bereit dazu, im Namen seines Glaubens einen Mord zu begehen. Der erste religiös- fanatische Attentäter der christlichen Geschichte.“ „Wenn sie es so sehen wollen.“ „Anders kann es nicht gesehen werden.“ Hellwein war einige Schritte durch die Halle gegangen und starrte nun auf die breite Fensterfront. Mit der rechten Hand ergriff er einen Degen, der an einem der Regale gelehnt hatte. „Fechten.“ „Bitte?“ Maccachio war irritiert. „Das ist ein spanischer Fechtkreis auf dem Boden.“ „Aha.“ Die Waffe noch immer in der Hand, schritt der Klon wieder auf die Sitzecke zu. „Wie ich bereits sagte, es tut sich etwas in dieser Sekte. Etwas Großes steht bevor. Wir werden uns umhören und versuchen in die Organisationsstruktur vorzudringen, um so viele Informationen wie möglich zu sichern. Dazu sind sie da. Laut ihrer Akte sind sie Spezialist für spirituelle Zeremonien, Bräuche und Traditionen im westlichen Kulturkreis. Sie haben ihre Promotion über christliche Geheimbünde geschrieben. Und sie beherrschen Latein, Hebräisch, Altgriechisch und Sumerisch. Wir brauchen jemanden, der ihre Sprache spricht. Die höheren Ordensmitglieder benutzen häufig Sumerisch und biblische Glaubensmotive als eine Art Geheimcode. Sie sollen unsere Eintrittskarte in ihre Welt sein. Außerdem wurden sie für den Außendienst ausgebildet.“ Der studierte Theologe zog wiederum die rechte Braue hoch und kaute auf seiner rechten Wange herum, wie er es immer tat, wenn er von einer Entwicklung überrascht war. „Wissen sie etwas über die Propheten der letzten Tage?“, fragte Morgan. „Wenig.“, gab Maccachio unverblümt zu. „Das ist schon mehr, als wir wissen. Sie sind trotz ihrer wachsenden Zahl äußerst effektiv organisiert. Es ist äußerst schwierig, einen Schwachpunkt in ihrem Panzer zu finden. Dennoch ist es uns gelungen, ein hohes Ordensmitglied für uns zu gewinnen.“ „Wie?“ „Nun, ähnlich der Mafia oder der Triaden, ist auch die Mitgliedschaft in diesem Orden ein Treuegelöbnis bis zum Tode, der im Falle einer Ausstiegswilligkeit schneller eintreten kann, als man das letzte Gebet zu sprechen in der Lage ist. Im Austausch für Straffreiheit und eine neue Identität hat er uns einige Hinweise zukommen lassen. Wir können ihn allerdings nicht kontaktieren, bis er endgültig aussteigt. Bis dahin erhalten wir von ihm nur vereinzelte Hinweise, die er uns über einen V-Mann auf den verschiedensten Wegen zu kommen lässt.“ „Und ich bin hier, um einen solchen Hinweis nachzugehen?“ Morgan hob beschwichtigend die Hände. „Langsam. Immer langsam. Erst einmal sind sie hier, um alles Notwenige zu erfahren. In den nächsten Tage werden sie alle Mitarbeiter, V-Männer, Quellen, Lokalitäten und was sonst noch wichtig ist, kennen lernen. Sie werden Zugang zu den Akten erhalten und über den neuesten Stand der Ermittlungen informiert werden. Erst dann sollen sie mit mir zusammen versuchen, über unsere spärlichen Hinweise hinaus zu ermitteln. Fehler können wir uns nicht leisten.“ Maccachio lud die Pistole durch, sicherte sie und lies sie in den Halfter gleiten. „Wann fangen wir an?“ „Wir sind bereits dabei.“ Morgan griff eine Lederjacke, die achtlos über eine Statue geworfen war. „Folgen sie mir. Man erwartet uns. Heidrun, alle Funktionen herunterfahren.“ Etwas überhastet folgte Francesco zum Aufzug. Lautlos schlossen die Türen.
Dienstag, 17. September, 10.34: Wieder ein Fahrstuhl. Macchachio fragte sich, ob mittlerweile die ganze Welt aus Fahrstühlen bestand. Man kam nicht mehr um sie herum. Nahezu ein jedes Gebäude besaß zumindest einen. Die Rolltreppen und Beförderungsbänder in Bahnhöfen, Flughäfen und Kaufhäusern waren schließlich auch nichts anderes als Fahrstühle, nur schräg oder ebenerdig verlaufend. Er schüttelte den Kopf. Wenigstens im Vatikan hatte man sich eine gewisse traditionelle Rückständigkeit bewahrt. Wieder glitten die Türen zur Seite. Er und Hellwein traten hinaus in einen großen Büroraum. Auf vielen Schreibtischen flimmerten Computerbildschirme. Die Fenster waren abgedunkelt, lediglich der kaltblasse Schein riesiger Neonröhren kämpfte verzweifelt gegen die Dunkelheit an. Neben dem Aufzug befand sich eine Reihe von Spinden aus grauem Hartplastik. Kleine Namensschilder wiesen dem dort erwähnten einen halben Kubikmeter Privatsphäre im weißblauen Kunstlicht des Arbeitsalltags. Menschen saßen an den Tischen, standen um sie herum, redeten, suchten, tippten, schrieben oder tranken Sojakaffee aus Tassen, deren bunte Farben oder pseudokomischen Aufdrucken verzweifelt nach einem Fluchtweg aus der Tristesse zu schreien schienen. Keine Bilder an den Wänden, keine Pflanzen in den Ecken. „Hier sitzt unser kleiner Recherchen- und Verwaltungsapparat.“, erklärte Morgan. „Welch ein Glück für sie.“ „Was?“ „Ach, nichts.“ Über die Bildschirme flackerten verschiedene Symbole und Bilder mythologischen oder religiösen Gehalts, Texte in fremdländischen Sprachen, die selbst Maccachio unbekannt waren, Videoanalysen oder einfach Zahlen und Daten. Ihr Weg führte sie auf einem Mittelgang quer durch die Reihen der Lohnsklaven, wie Francesco sie zu nennen pflegte. Am Ende befand sich eine Tür aus echtem Teakholz. Als einziges Anzeichen von Geschmack und Leben stand sie antagonistisch zu all jenem, das sich vor ihr trister Modernität ergab. „Haben sie auch einen Arbeitsplatz hier?“, fragte Maccachio. Morgan sah den Mann aus dem Vatikan missbilligend an und öffnete dann wortlos die schwere Tür. Sie eröffnete den Zutritt zu einem einzelnen Büroraum. Hellwein ließ seinen neuen Partner zuerst eintreten, folgte dann selbst und schloss die Tür. Eine edel wirkende Holzvertäfelung umschloss drei Seiten des Zimmers, entpuppte sich aber bei näherer Betrachtung als Kunstholz, wenn gleich ein teures. Neben einem großen Schreibtisch stand eine kleine Couchgarnitur. Die Türseite war zugestellt mit Aktenschränken, während die verbleibende ungetäfelte Seite frei blieb, denn sie bestand aus einem riesigen Panoramafenster. Mit einem Becher Kaffee in der Hand stand dort ein Mann vor einem Teleskop und beobachtet angestrengt etwas im gegenüberliegenden Gebäude. „Es ist unglaublich! Die treiben es schon wieder. So eine Chefin würde ich mir auch noch gefallen lassen.“, schnaubte die kleine hagere Gestalt. Als jener heimliche Beobachter sich von seinem Fernsichtgerät abwandte, schien er keineswegs unangenehm berührt, dass jemand anderes seine Worte vernommen hatte. Der Mann blickte sich im Zimmer um, als suchte er dort noch ein Pärchen zu entdecken, das sich von ihm beim Geschlechtsakt beobachten ließe. Dann deutete er mit einer einladenden Geste auf die Garnitur. „Nehmen sie Platz, meine Herren!“ Morgan und Francesco ließen sich auf der Couch nieder, während der Mann seinen Kaffee abstellte und sich auf den gegenüberliegenden Sessel lümmelte. „Ich bin Gernot Seiler, Leiter des SEK 13 für Sekten und Religiösen Fanatismus.“, stellte er sich vor. „Herrn Hellwein haben sie ja bereits kennen gelernt.“ Maccachio nickte nur, während er die kleine Gestalt vor sich, sorgsam auf Unauffälligkeit bedacht, musterte. Seiler griff indes nach einer kleinen Fernbedienung, die auf dem Couchtisch gelegen hatte. Er drückte eine Taste und hinter der Sitzecke glitt ein Teil der Holzvertäfelung zur Seite, um einen großen Bildschirm frei zu geben. Auf diesem formte sich das dreidimensionale Bild eines religiösen Führers aus dem ersten Viertel des 21. Jahrhunderts. „Schon zur letzten Jahrtausendwende prophezeiten NATO-Sicherheitsexperten das Ende interlateraler Kriege. Religiöse Konflikte wurden als das Hauptproblem unserer Zeit vorhergesehen. Doch dass es solche Ausmaße annehmen würde, war selbst den größten Pessimisten wohl nicht klar. Man hoffte darauf, dass den anderen Weltreligionen ähnliches geschehen würde, wie dem Christentum. Weltliche Konsumkultur sollte den Einfluss von Rabbis, Priestern und Propheten zurücktreiben. Der Videorekorder sollte den Koran verdrängen, wie er die Bibel aus unserer Welt nahezu verbannt hatte. Mann hoffte durch eine allgemeine breitere Bildung und Medieneinfluss die Menschen aus Moscheen, Tempeln und Kirchen fernzuhalten, um sie Demagogen und Fanatikern aus den Klauen zu reißen. Doch man hatte sich geirrt.“ Inzwischen flackerte Maschinengewehrfeuer über den Bildschirm, Nachrichtenbilder von Verstümmelungen, Erschießungen, Hunger und Tod folgten. Frauen weinten um ihre Söhne, vor den kalten Linsen der Kameras, durch welche die westliche Welt live ihre Gier nach Gewalt im Abendfernsehen stillte, ungeahnt der latenten Gefahr, die vor ihren Häusern Stellung bezog. „Die Religionen außerhalb der westlichen Welt verloren nicht an Bedeutung, sondern gewannen innerhalb ihrer eigenen Grenzen aus Stahl, Plastik und Plexiglas einen Zulauf, wie sie ihn seit Jahrhunderten nicht mehr gekannt hatten.. Wirtschaftskrisen, Umweltkatastrophen und verheerende Attentate trieben die Menschen zurück in das weit geöffnete Maul des Glaubens.“ „Ich muss doch sehr bitten.“, protestierte Maccachio. „Sorry.“ Der kleine Mann zeigte jedoch kein Zeichen von Reue. „Also weiter! Sekten schossen wie Schimmelpilze bei feuchtwarmen Wetter empor. Religiöse Führer auf der ganzen Welt scharrten Staaten von Anhängern um sich. Sie...“ „...Warum erzählen sie mir das alles?“, intervenierte der Mann aus dem Vatikan. „Diese Entwicklungen kenne ich auch!“ Hellwein funkelte ihn mit seinen goldenen Augen an. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt und war aufgestanden, um sich ebenfalls eine Tasse Kaffee zu holen. „Lassen sie ihn ausreden!“, befahl er. Maccachio zuckte mit den Schultern und lehnte sich wieder zurück. Das Angebot eines Kaffees wies er mit einer kurzen Handbewegung ab. Dies begriff Gernot Seiler als Aufforderung fortzufahren. „Staatliche Organe und Institutionen verloren an Bedeutung. Wen schert schon das irdische Jammertal, wenn einen doch als Dank für die Frömmigkeit das ewige Paradies erwartet? Das Bewusstein über den Wert menschlichen Lebens, welches sich nach 1945 mehr und mehr zu etablieren begonnen hatte, wich den höheren Zielen und Aufgaben, welche die überirdischen Instanzen ihren Jüngern vorgaben. Da müssten einige Zukunftsvisionäre ins Staunen geraten sein. Die Welt im letzten Drittel des 21. Jahrhunderts liegt nicht in den Händen der Konzerne, sondern in den eisernen Fäusten der Kirchen. Und es gibt kein oberstes Gesetz, dass sie beherrscht.“ Die begleitende Bildtour führte mittlerweile durch verschiedene sakrale Gebäude, zeigte Straßenprediger und Sektentreffen, okkulte Zeremonien, sowie rituelle Opferungen. „Willkommen im finsteren Mittelalter. Der heilige Krieg steht bevor, und gewinnen wird ihn der, der die Gläubigen auf seiner Seite vereinen kann. Die Welt braucht einen Messias, und sie braucht ihn schnell!“ Francesco betrachtete seinen zukünftigen Chef. Dieser Mann hatte nichts übrig für das Christentum, welchem er selbst sein ganzes Leben gewidmet hatte. Seiler gehörte zu den Menschen, die an nichts glaubten, das sie nicht besitzen oder töten konnten. War das vielleicht der Grund, aus dem sie seine Hilfe angefordert hatten? Brauchten sie weniger jemanden mit seinen Kenntnissen, als vielmehr jemanden, der die Gläubigen verstand, der einer von ihnen war? Hellwein und sein Chef hielten vom Papst in Rom nicht mehr als von einem verrückten Sektierer auf einer Erdnussfarm in Idaho. Soviel war sicher. „Und weiter?“ Maccachio tat vollkommen ahnungslos. „Der Kommandoleiter schien erfreut, dass sein neuer Schützling scheinbar endlich Interesse bekundete. „Die meisten der entstandenen Sekten künden vom bevorstehenden Ende aller Tage. Vom Ragnarök oder von der Apokalypse. Wie auch immer. Die Zeit, welche viele der Vorhersagen als den Untergang der Welt bezeichneten, nähert sich, und mit ihr kommt das Chaos. Hier in den UDSE sind in den letzten Monaten vermehrt eine Sekte mit Namen Die Propheten der letzten Tage sowie ihr rivalisierende Gruppierungen auffällig geworden. Unsere Informanten vermelden eine erhöhte Aktivität in diesen Kreisen.“ „Herr Hellwein hat mich bereits darüber in Kenntnis gesetzt.“ „Sehr schön.“ Seiler nickte zufrieden. „Jetzt kommen wir also zu dem, was sie am Meisten interessieren dürfte: Ihre Aufgabe bei der ganzen Sache.“ Maccachio beugte sich ein wenig vor. „Dann wird er ihnen ja auch gesagt haben, dass wir ihre besonderen Kenntnisse benötigen, um einen Zugriff auf jene Organisationen, denn nichts anderes sind sie für mich, zu finden.“ Dachte ich es doch, schoss es dem päpstlichen Agenten durch den Kopf. „Und was genau soll ich mit meinen Kenntnissen leisten. Mir wurde bereits angedeutet, im Außendienst tätig zu sein, um in innere Strukturen vorzudringen.“ „So oder so ähnlich.“ Sein Gegenüber nahm einen großen Schluck aus der Tasse. „Zuerst wird Morgan ihnen die wichtigsten Lokalitäten und Personen vorstellen, damit sie sich ein Bild machen können. Dann werden sie beginnen, aus den gesammelten Informationen ein Profil zu erstellen. Mit diesem werden wir dann versuchen, einen neuen Zugang zu erschließen. Francesco blickte zu dem Klon hinüber. Dieser hatte sich bis dato uninteressiert gezeigt, runzelte nun aber überrascht die Stirn. Seinem Vorgesetzten schien das nicht entgangen zu sein, obwohl sich Morgan, mit der Tasse in der Hand, an einen der Aktenschränke gelehnt, außerhalb seines Sichtbereiches befand. „Ja, unser Informant ist tot. Er war wohl nicht vorsichtig genug. Seine Leiche wurde heute früh von ein paar Obdachlosen in einer verlassenen Kirche gefunden. Er war dort verkehrt herum an ein Kreuz genagelt worden.“ „Seit wann ist er tot?“, fragte Morgan betont sachlich. „Seit etwa 72 Stunden.“ „Fuck!“ Der Klon knallte seinen Becher auf den Schreibtisch. Hektisch tippte er auf ein paar Tasten seines Handgelenktelefons und wartete. Etwas unschlüssig starrten ihn die beiden anderen an. Nach einer Weile drückte der Mann mit den goldenen Augen verärgert eine weitere Taste. „Wir müssen los! Kommen sie!“, rief Morgan seinem neuen Partner zu, während er bereits aus dem Raum hinausstürzte. Maccachio warf dem verwirrten Gernot Seiler nur einen ahnungslosen Blick zu und eilte dann dem Klon hinterher. Durch die sich schließenden Fahrstuhltüren stieß er gerade noch rechtzeitig zu ihm.
Dienstag, 17. September, 11.04: Maccachio betrachtete das Seitenprofil Hellweins. Am Seitenfenster des Wagens zogen die finsteren Fassaden anonymer Wohnblocks vorbei. Seitdem sie im Auto saßen, hatte sein neuer Partner noch einige Male versucht, jemanden über seine Telefon zu erreichen, stets ohne Erfolg. „Erklären sie mir jetzt, was los ist?“, fragte Francesco schließlich, nachdem er es Leid war, auf eine freiwillige Erläuterung Morgans zu warten. „Einer unserer Verbindungsmänner hat erst vor Kurzem eine Nachricht von diesem Informanten erhalten. Er sollte sich mit ihm treffen.“ „Wann?“ „Welches wann?“ „Beide.“, knurrte Maccachio entnervt. „Die Nachricht bekam er im Laufe des gestrigen Tages. Gegen Abend informierte er mich, dass er für heute ein Rendezvous hätte.“ „Und da ihr Spitzel zu diesem Zeitpunkt bereits tot war...“ „... kann es sich nur um eine Falle handeln...“ „... um herauszufinden, wer dahinter steckt, und wie viel derjenige schon weiß.“ „Genau das.“ Morgan schien zufrieden mit dem Neuen. Der Agent vom Oculus Dei starrte indes wieder aus dem Fenster. In kurzen Intervallen befreite der Scheibenwischer das Hartplastik der Frontscheibe von dem bitteren Nieselregen, der die Konturen des Grau, welches in einer sich schier endlos wiederholenden Schleife an ihnen vorbeihuschte, mit einem unwirklichen Glanz umgab. Wie große Säulen schienen die Hochhäuser die schwarzen Wolken zu stützen, auf dass sie ob ihres Gewichtes nicht zu Boden fielen. Die zerfurchte Straße wurde zur Linken sowie zur Rechten von heruntergekommenen Fahrzeugen gesäumt, deren Zulassungen zum Teil seit über zehn Jahren abgelaufen waren. Aber wer interessierte sich in einer solchen Gegend schon für Scheine und Papiere? Die Arbeitslosenslums durchzogen wie ein Geschwür die Zentren der großen Städte. In einem Land, dessen Sozialsystem vor mehr als 30 Jahren zusammengebrochen war, verkamen die über 40 Prozent Beschäftigungslosen schnell zu einem wachsenden Moloch im Herzen der einstigen Dekadenz einer westlichen Industrienation. Sex, Gewalt, Verbrechen und Religion waren die einzigen Opiate für ein Volk ohne Zukunft und ohne Gegenwart.
Dienstag, 17. September, 11.35: Morgan stoppte den Wagen vor einem schäbigen kleinen Motel, welches denjenigen, die sich nichts Besseres leisten konnten, zumeist nur für ein oder zwei Wochen eine Zuflucht vor der Kälte der Straße bot. Oder es war einfach nur die passende Örtlichkeit, sich der abgenutzten Genitalien einer Hure, eines Transvestiten, Schwulen oder eines Hybrides aus all dem zu bedienen. Sollten beide zuvor genannten Gründe nicht zutreffen, so war es einfach ein warmer und trockener Fundort für die sterblichen Überreste eines Suizidwilligen, der sich all dem zu entziehen trachtete. Es erschien Maccachio zunächst töricht, den silbergrauen AIM »Cerberus« vor jenem Gomorra des 21. Jahrhunderts unbewacht stehen zu lassen. Allied Inter Motors war zwar bekannt für radikale Sicherungssysteme, doch galt für jene, was für alle Sicherheitssystem gilt. Bevor sie endlich auf den Markt gelangen, hat irgendwer schon einen Weg gefunden, sie zu knacken. Aber Morgan schien sich keines Risikos bewusst. Man kannte ihn dort. Die beiden Ermittler betraten eine rauchige Vorhalle mit speckigen, gelben Wänden. Auf einem zerschlissenen Kunstledersofa saß der Vermieter, wie Francesco mutmaßte, da die kleine Rezeption nicht besetzt war. Der Mann sah aus, als hätte er schon viele Leichen oder solche, die es lieber sein sollten, aus seinem Haus heraus oder in es hinein getragen. Es gab wohl kaum eine Abartigkeit der menschlichen Existenz, welcher er noch nicht ansichtig geworden wäre. „Ist Riklef oben?“, fragte der Klon unfreundlich. „Ist mir das vielleicht völlig Latex.“, pöbelte der Kerl auf dem Sofa zurück. „Bin doch nicht seine Hure von Mutter.“ „Immer eine Freude mit dir.“ Morgan grinste sporadisch. „Fick dich!“ Der alte Vermieter hatte weder als wir sein Motel betreten hatten, noch während seiner wenigen Worte zu uns aufgesehen. Das änderte sich auch nicht, als wir an ihm vorbei zum Fahrstuhl gingen. Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen, wofür man kein Geld bekam. Seit hundert Jahren die selben Überlebensregeln für Affen im Großstadtdschungel. Maccachio hätte lieber die Treppen genommen, anstatt wieder in einen Aufzug zu steigen, dessen maroder Zustand durchaus versprach, den direkten Weg nach oben zu weisen. Und zwar nach ganz oben. Zumindest hoffte der Theologe gegebenenfalls auf diese Richtung. Allerdings wollte er seine sterblichen Überreste nur sehr ungern auf seinem Freiflug ins himmlische Utopia dabei beobachten, wie sie von dem Schrott des Fahrstuhles abgekratzt wurden. „Bis jetzt hat er immer gehalten.“ Morgan grinste wieder, als hätte er die Gedanken des Mannes vom Oculus Dei erahnt. „Zumindest immer, wenn ich damit gefahren bin.“ Francesco warf ihm einen verächtlichen Blick zu und stieg dann in die kleine Kabine, in der es auffällig nach synthetischem Tabakqualm roch. Die Türen schlossen. Als sie sich wieder öffneten, gaben sie den Blick auf einen Korridor frei. Modern grelle Neonbilder verdeckten einen Teil der Risse, welche unter der abbröckelnden mintgrünen Wandfarbe den Blick auf kalten Stahlbeton freigaben. Einzig die Türen schienen innerhalb der letzten 40 Jahre erneuert. Sie waren mit moderner Sicherheitselektronik versehen. Zügig marschierte Hellwein auf einen Eingang am Ende des Korridors zu. Mehrmals betätigte der Klon die Klingel, aber weder das Surren des Öffners, noch das leise Summen der Überwachungskamera verhieß, dass jemand zu Hause war. Kurzerhand ergriff Morgan seine Polizei- ID- Karte und zog sie durch den Scanner am Schloss. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf. Hinter ihr befand sich ein heruntergewirtschaftetes Appartement. Früher einmal hatte man dort sicherlich gut leben können, doch der Zahn der Zeit hatte gierig an der Unterkunft genagt, oder besser geschlungen. Leere Flasche und Fastfoodboxen säumten den Boden. Die Vorhänge waren zugezogen. Das einzige Licht ging von der Unterwasserbeleuchtung des Hologrammaquariums in der Wand aus. Solche Aquarien waren sehr beliebt in einer Zeit, da kaum jemand das Geld und die Ruhe hatte, sich um lebende Haustiere zu kümmern. Außerdem sah man lebende Fische ja auch nur an, ebenso wie holographische. Während Morgan durch die Tür zur Linken in das Schlafzimmer trat, betrachtete sein Partner die in den Hauptraum integrierte Küche. Reste des Frühstücks verwiesen auf einen überhasteten Aufbruch. Aus der Temperatur des Tees und der Härte des Toast geschlossen, lag dieser schon einige Stunden zurück. Maccachio warf einen Blick auf den Bildschirm neben dem Esstisch. Er war noch eingeschaltet und zeigte die Titelseite der aktuelle E-News Ausgabe. Der Jesuit betrachtet die Schlagzeile: Der Westen rüstet auf. Er selbst hatte am Morgen nicht die Muße gefunden, einen Blick hinein zu werfen, obwohl ihn die Ergebnisse der Abrüstungsverhandlungen brennend interessierten. Francesco ließ sich auf einem Stuhl nieder und las weiter.
Der Westen rüstet auf UDSE- Außenminister verlässt Abrüstungsverhandlungen in Hanoi.
Nach acht Tagen kam es in der vergangenen Nacht im Plenarsaal der University of Hanoi zum Eklat. Nach dem Vorwurf des US- Gesandten Edward Hushing, die Verhandlungen nur zu benutzen, um die militärische Vormachtstellung der Union Demokratischer Staaten Europas zu erreichen, verließ der euro- päische Außenminister Pjotr Ilskac die Verhandlungen. Er bezeichnete die Bemühungen um eine Lösung des weltweiten Overkillpotentials als Utopie und beschimpfte den amerikanischen Außenminister und dessen Amts-kollegen Masato Dehan von der Ostasiatischen Föderation als skrupellose Geschäftsmänner, die ihre Zuschüsse von der Waffen-industrie nicht verlieren wollten. Am frühen Nachmittag äußerte sich bereits der...
Maccachio vernahm das Klicken eines Spannhebels neben sich. Im selben Moment spürte er auch das kalte Metall des Laufes an seiner Schläfe. „Während der Arbeit sollte man immer mindestens ein Auge für sein Umfeld übrig haben.“ Morgan sicherte seine Waffe wieder und steckte sie zurück in den Halfter. Francesco war inzwischen aufgesprungen und wollte den Klon mit einem Haken zu Boden strecken, besann sich aber noch rechtzeitig darauf, diesem lieber in die genmanipulierte Fresse zu brüllen, an welchen dunklen Ort er sich seine makaberen Späße schieben konnte. Die Charakterisierung von Hellweins Mutter, die der studierte Theologe am Liebsten noch als Garnierung hinzugefügt hätte, verschluckte er jedoch mit Rücksicht auf dessen Reagenzglasfamilie. Morgan schienen die Beschimpfungen jedoch nicht im Mindesten zu interessieren. „Früher oder später werden sie erkennen, wie recht ich habe.“, sagte er nur. „Ich hoffe für sie, dass es eher früher als später ist.“ Maccachio starrte auf das Aquarium voll bunter Fische aus Lichtpartikeln. „Er ist wohl schon weg.“ „Ist er wohl.“, bestätigte der Klon. In diesem Moment gab das kleine Telefon am Handgelenk einen elektrischen Impuls an seinen Körper weiter. Morgan nahm den Anruf entgegen. „Was ist?... Hast du ihnen gesagt, dass wir hier sind?... Gut!...Wie sahen sie aus?... Danke!... Ja ja, ich weiß!“ „Wir kriegen Besuch.“, rief der Beamte vom SEK 13 Maccachio zu, während er seine Pistolen aus dem Halfter zog. „Wer war das?“, wollte der ehemalige Papstagent wissen. „Thor, der Kerl unten aus der Halle. Zwei Typen haben gerade nach dem Appartement von Riklef Alberts gefragt. Er hat sie zu uns hochgeschickt.“ Schnell verbargen sich die beiden an verschiedenen Plätzen, die ihnen ausreichend Deckung boten aber auch gestatteten, die unbekannten Besucher, welche in Kürze in den Raum treten würden, unbemerkt zu beobachten. Sie brauchten nicht lange zu warten, bis sie Schritte auf dem Gang vernahmen. Maccachios Herz schlug höher. Er war zwar für den Außendienst ausgebildet, doch hatte er den Großteil seiner Zeit beim Geheimdienst des Vatikans mit der Jagd auf Akten und Schriften verbracht. Das Risiko, von diesen in Ausübung seiner Pflicht umgelegt zu werden, war akzeptabel gewesen. Morgan indes schien gänzlich unbeeindruckt. Mit starrem Blick fixierte er die Tür, an welcher sich etwas tat. Die anderen Männer schienen ebenfalls mit einer UniCard das Schloss überwinden zu wollen. Doch plötzlich ertönte ein kurzer schriller Signalton. Der Klon sprang aus seinem Versteck hervor. „Fuck! Das sind Profis! Die Karte hat sie gewarnt, dass die Tür vorher von einer UDSE- Regierungs- UniCard geöffnet worden ist.“ Schnelle Schritte dröhnten über den Korridor. Der Klon stürmte hinaus. Maccachio hetzte hinterher, so schnell er konnte. Sie rannten an den verschiedenen Appartements vorbei auf das Treppenhaus zu. Mit großen Sprüngen überbrückte Hellwein die meisten der Stufen. Sein Partner hatte große Mühe, ihm zu folgen. Als sie durch eine Brandsicherungstür in die Empfangshalle stürzten, sahen sie gerade noch zwei Gestalten durch den Haupteingang verschwinden. Verzweifelt versuchte der Mann aus dem Vatikan mit dem Beamten des Sondereinsatz-kommandos mitzuhalten. Doch im Gegensatz zu diesem, war er solche Verfolgungen nicht gewohnt. Seine Bücher hatten immer brav gewartet. Keines wäre je auf die Idee gekommen, vor ihm zu fliehen und dann noch in so einem affenartigen Tempo. Der kleine Bauch, der sich beim Studium abertausender verstaubter Seiten angesetzt hatte, erwies sich nun als äußerst hinderlich. Hellwein jagte an dem noch immer von allem scheinbar ungerührt dasitzenden Vermieter vorbei und riss die Tür auf. Die Zeit, die er dabei verlor, genügte Francesco, ihn wieder einzuholen, so dass sie, wie aus einer zu kleinen Popcorntüte, gemeinsam auf die Straße platzen. Der Klon hatte die neue Situation schneller erfasst. „Den Rechten!“, brüllte Hellwein, während er selbst über das tiefe Dach seines Wagens hastete, um dem Einen der beiden Flüchtigen über die zum Glück vollkommen unbenutzte Straße nachzusetzen. Im selben Moment wandte Maccachio sich nach rechts und erblickte dort den Zweiten, der, ein wenig humpelnd, durch die Pfützen im nassen Beton des Gehweges hastete. Hatte Morgan diese leichte Behinderung wahrgenommen und ihn deshalb dem weniger trainierten Francesco überlassen? Es blieb keine Zeit darüber nachzusinnen. Er atmete noch einmal tief ein und preschte dann dem Mann hinterher. Trotz seiner augenscheinlichen Behinderung war der Flüchtige in erstaunlich guter körperlicher Verfassung. Seinem Verfolger vom Oculus Dei fiel es schwer, näher heran zu kommen. Maccachio überlegte, während ihm der Regen ins Gesicht klatschte, ob er es riskieren konnte, den Mann mit einem Schuss zu stoppen. Die Straße war menschenleer. Sollte er ihn verfehlen würde das Geschoss vermutlich nur in eine Häuserwand, ein abgestelltes Auto oder einen Data-Terminal einschlagen. Da alle drei vermutlich sowieso bereits verfallen, demoliert oder unbrauchbar waren, blieb das Risiko annehmbar. Doch was war, wenn er den Mann traf? Konnte er einfach auf ihn schießen, wie in einem billigen Actionfilm? Bis jetzt hatte der Unbekannte nur versucht, unrechtmäßig in eine Wohnung einzudringen. Vielleicht nicht einmal das. Womöglich war er ein Freund des Eigentümers oder der Hausmeister oder sein homosexueller Lebensgefährte, der nur für einen Quickie am Morgen vorbeischauen wollte. Im selben Moment erwiesen sich alle Überlegungen als hinfällig. Der Mann, den er verfolgte, hatte offenbar weniger Skrupel, was den Gebrauch einer Schusswaffe betraf. Plötzlich warf er sich zwischen zwei am Gehweg abgestellte Wagen und schoss zweimal in Maccachios Richtung. Dieser hechtete blitzschnell zur anderen Seite und suchte seine Deckung hinter einer uralten Sammlung von Sperrmüll, die der letzte Müllwagen, der dort vor 1000 Jahren mal durchgefahren war, wohl übersehen hatte. Francesco landete äußerst unsanft auf einem Haufen Elektroschrott, konnte aber von dort aus die Position seines Gegners, etwa 25 Meter vor sich, überblicken. Den Mann selbst sah er allerdings nicht. Mehr zur Warnung gab er zwei Schüsse auf den Wagen ab, hinter welchem sich sein Ziel verschanzt hatte. Hellwein hatte nicht zuviel versprochen. Die Geschosse rissen riesige Löcher in die Plastikverkleidung des Autos, durchschlugen es wie Pergament. Ohne noch einen Schrei von sich geben zu können, kippte der Körper des unglücklichen Flüchtigen aus seiner Deckung hervor. Eine der Kugeln hatte ihm die Hälfte seines Gesichtes weggerissen.
Dienstag, 17. September, 15.19: „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie ihn umgelegt haben.“, spöttelte Hellwein. „Dass ihrer die Angelegenheit überlebt, ist auch noch nicht raus.“ „Noch atmet er, oder?“ „Eigentlich atmet mehr eine Maschine für ihn.“ „Er hätte sich ja nicht wehren müssen.“ Inzwischen war ein junges Mädchen an den Tisch herangetreten. Sie trug die seit über Hundert Jahren bewährt unansehnliche Tracht der Bedienungen eines Fast Food Restaurants. In der Hand hielt sie einen elektronischen Notizblock, und in ihrem Gesicht quälte sich mühsam ein Trinkgeldlächeln hervor. Maccachio gefielen ihre großen braunen Augen. Hellwein dagegen schien wenig beeindruckt. Desinteressiert zog er an seiner Zigarette. „Zweimal das Tagesmenü!“, befahl er, bevor sie oder auch Francesco etwas sagen konnten. „Aber geizt nicht so mit der Soße. Das Chemiezeugs ist ja schließlich billig genug!“ Leicht verschnupft stapfte das Mädchen zur Theke zurück. „Vielleicht wollte ich ja etwas Anderes.“, maulte der Maccachio. „Glaub ich nicht.“ Der Klon beobachtete interessiert den Streit eines jungen Ehepaares, das gemeinsam auf dem riesigen Parkplatz der großen Shoppingmall gegenüber den Kofferraum eines eleganten Zato »Impala« mit den Errungenschaften eines harten Einkaufstages füllte. „Zehn zu eins, die trennen sich bald.“ „Sehr gewagte Prognose, in einer Zeit, in der die durchschnittliche Ehe zwei Monate hält.“ Ein ironisches Grinsen zog sich über Maccachios Gesicht. „Bald muss wohl der gesamte Rest der Menschheit in der Mikrowelle aufgetaut werden.“ „Vielleicht wäre das auch besser, dann könnte man die vielen beschissenen Eigenschaften aus ihnen herauszüchten. Ihre Depressionen, ihre Feigheit, ihre Schwäche und ihre Dummheit.“ „Sie halten nicht viel von uns, oder?“ „Was halten sie denn von mir? Sie haben mich soeben mit ihrer Formulierung aus ihrer Art ausgeschlossen. Für sie bin ich also nicht einmal ein Mensch!“ „Das habe ich nicht gesagt.“, versuchte der ehemalige Agent des Vatikan sich zu verteidigen. „Das ist auch nicht nötig. Ich bin ihnen in allen Bereichen überlegen, sowohl geistig als auch körperlich. Ich bin schneller, stärker und besser als sie. Und das macht ihnen Angst. Sie haben Angst, dass Menschen wie sie bald nicht mehr benötigt werden, und dass sie dann den Abschaum am Rande einer Gesellschaft auf der höchsten Stufe der Entwicklung bilden werden.“ „Sie wollen der letzte Spross auf der Evolutionsleiter sein?“, fragte Maccachio spöttisch. „Sie sind ein Kreation des Menschen und damit fehlerhaft. Wir hingegen sind von Gottes Hand erschaffen und damit weitaus perfekter, als all jenes, welches ein Mensch auf Erden zu erschaffen vermag.“ „Ich bin also kein Geschöpf ihres Gottes?“ Morgan zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Kann nicht sagen, dadurch jemals einen Nachteil erfahren zu haben. Wo ist denn ihre göttliche Perfektion? Wo ist ihr alles überragender Gott, um denjenigen, die er angeblich nach seinem Ebenbild formte, den Weg in eine bessere Welt zu weisen? Nach seinem Ebenbild bedeutet für mich nur, dass auch er fehlerhaft ist. Die alten Griechen wussten das wenigstens von ihren Göttern. Eure Welt ist eine Utopie, und euer Gott nur eine Idee, entsprungen dem Geist eines Wahnsinnigen.“ Der studierte Theologe wischte sich den Mund ab, und legte die Serviette dann betont langsam neben seinen Teller. Süffisant lächelnd lehnte er sich zurück. „Sie fragen wo unsere Perfektion liegt? Ich will es ihnen sagen! Der Mensch ist in der Lage sich den Veränderungen der Welt, des Universums anzupassen. Gottes Kinder werden immer einen Weg aus dem Dunkel finden. Sie hingegen können nicht einmal in dieser Welt existieren, ohne ihren Körper durch Chemikalien am Leben zu erhalten. Die Natur wird diesem irrwitzigen Wahn des Menschen seine Grenzen aufzeigen. Irgendwann wird ihr Körper gegen die Droge immun sein, und sie werden sterben. Dann wird mit ihrer biologischen Hülle alles vergehen, was sie jemals waren. Nichts wird von ihnen fortdauern.“ „Das ist wohl bei ihnen anders, weil ihre Seele ja bis in alle Ewigkeit leben wird?“ „So ist es.“ „Ich verzichte dankend. Da friste ich doch lieber ein einziges kurzes Leben auf dieser verschissenen Erde, als bis zum Ende der Zeit einem Traum hinterher zu rennen und im großen Finale vor der endlosen Schwärze des Universums auf einen Airbus mit Engelsflügeln zu warten, dessen Verspätung ewig ist.“ „Sie tun mir leid.“ „Dann können wir uns ja gegenseitig trösten.“ Die beiden Männer sahen sich ein Zeit schweigend an. Just in dem Moment, als die Bedienung mit dem Essen kam, prustete Morgan plötzlich los. Francesco konnte nicht anders, als mit einzustimmen. Etwas verwirrt platzierte das Mädchen zwei gut gefüllte Teller samt Besteck auf dem Tisch und zog dann wortlos Hellweins UniCard durch den Scanner. Vermutlich war sie verstimmt, dass der Klon ihr nicht gestattet hatte, ein zusätzliches Trinkgeld abzuziehen. „Ich denke, wir werden gut zusammenarbeiten, Mulder.“ Der Agent des Papstes blickte skeptisch in die goldenen Augen seines Gegenübers. „Mulder?“ „2D Television. Vergessen sie es.“ , grinste Morgan. Die Beiden widmeten sich ihrem Tagesmenü, in Form eines Sojasteaks mit einer seltsam breiartigen Masse als Beilage. Maccachio hasste diesen modernen Junkfood, in den grellsten Farben beinahe strahlend, als wäre das Zeug ohne die Chemikalien nicht schon giftig genug. Aber vermutlich störte sich in diesen Regionen der Welt niemand daran, die selbige womöglich ein paar Jahre früher zu verlassen. Immerhin kam es vom Geschmack einem echten Steak recht nahe. „Es ist wirklich unglaublich.“, platzte es aus dem Klon plötzlich wieder heraus. „Ihr erster Tag und gleich sauber einem Kerl die Rübe demontiert.“ „Morgan.“ „Bang! Wie ein Abrissunternehmen. Einfach weg.“ „Morgan!“ Der Klon hielt scheinbar überrascht inne. „Es reicht! Sagen sie mir lieber, wie es jetzt weiter geht.“, forderte Maccachio gereizt. „Na ja, wir warten, bis die beiden identifiziert sind. Dann werden wir uns ein wenig in deren Umfeld umsehen.“ Der Mann vom Auge Gottes stocherte in seinem Essen herum, legte das Besteck nieder und nahm einen großen Schluck seines Softdrinks, welcher sich in seinem schlichten Blau vergeblich mühte, dem Leuchten der festen Nahrung zu konkurrieren. „Warum dauert das so lange?“, fragte Maccachio schließlich ungeduldig. „Das identifizieren ist sicher schon abgeschlossen. Etwas über sie herauszubekommen, ist die eigentliche Schwierigkeit. Solche Typen leben zumeist außerhalb unseres Systems von Ausweisen, IDs, Papieren und Daten.“ Maccachio kicherte. „Darum könnte man sie fast beneiden.“ „Fast.“, murmelte der Klon etwas geistesabwesend. „Jedenfalls sind diese Kerle sowieso schon kaum registriert. Und wenn sie, wie ich annehme und für unsere Ermittlungen hoffe, zu einer Sekte gehören, ist es nahezu unmöglich sie zu finden. Häufig haben sie ihren gesamten Besitz über irgendeine Briefkastenfirma dem Oberguru überschrieben. Sie haben keine eigene Wohnung, kein eigenes Auto, arbeiten nicht, sind nicht versichert. Wahrscheinlich haben sie nicht einmal einen Ausweis, eine Sozialversicherungsnummer oder einen Führerschein.“ „Vielleicht haben sie ja einen Waffenschein.“ Morgan verzog das Gesicht zu einem missbilligenden Grinsen. „Wohl heute Morgen einen Lachsack gefickt, was?“ „Schon gut.“ Francesco blickte etwas in dem kleinen Restaurant umher. Weniger weil ihn das kalte Kunstharzinterieur interessierte, als vielmehr er einen Moment des Schweigens ersehnte. Hauptsächlich Violett und Silbergrau dominierten die breite Theke und den davor befindlichen Raum, der vor Tischen nahezu überquoll. Die Wände waren dekoriert mit modernen Digitalgemälden der Neongotik. Traurige Wölbungen voller Vergänglichkeit und Klage durchbrochen von abschreckendem Grün und Gelb, welche sich nahezu in das Auge des Betrachters schnitten. Ein surreales Hybrid finsteren Mittelalters und noch finsterer Gegenwart in grellster Groteske. Maccachio wandte sich wieder seinem Gegenüber zu. „Warum sind sie beim SEK 13, Morgan?“ „Ich bin ein Kind der Regierung.“ Die goldenen Augen blickten nachdenklich zur Decke. „Im Auftrag der UDSE wurde ich erschaffen, und um meine Schuld zu bezahlen, muss ich dem Staat zur Verfügung stehen. Man könnte sagen, ich musste in die Firma meines Vaters eintreten.“ „Und dieser Vater gab ihnen auch den Namen Hellwein?“ Morgan lächelte. „Nein. Den Namen gab mir der Mann, der einem biologischen Vater wohl am ehesten entspräche. Viktor Hellwein war der leitende Wissenschaftler bei Genesis Enterprises und verantwortlich für meine Versuchsreihe.“ „Also arbeiten sie für die Regierung, weil sie mussten. Aber warum Sekten und religiösen Fanatismus? Wieso sind sie nicht Finanzbeamter geworden oder zum Militär gegangen, zum Geheimdienst oder zu sonst irgendeiner anderen Sondereinheit?“ Der Klon sah den Mann auf der anderen Seite des Tisches nachdenklich an. Er wirkte geradezu so, als ob er an dieses Thema noch nie einen Gedanken verschwendet hatte. „Vielleicht liegt es gerade daran, dass ich eben kein Geschöpf Gottes bin. Womöglich habe ich Leute, die fanatisch einer unsichtbaren Präsenz hinterherlaufen, deren Wille verkündet wird, durch Menschen, die ebenso fehlbar sind, wie der gesamte Rest ihrer Spezies, schon immer gehasst. Vielleicht war es einfach mein Wunsch gegen sie zu kämpfen. Ich wäre nicht der erste, der aus Unverständnis einem heraus gegen andere vorgeht.“ „Ist das ihr ernst, oder versuchen sie gerade mich zu verarschen?“ Morgan lächelte, so wie er immer lächelte, wenn sich überlegen fühlte. „Wissen sie, Francesco...“ Mitten im Satz forderte das Funktelefon an Hellweins Handgelenk erneut dessen Aufmerksamkeit. Eine kurze Textmeldung erschien auf dem Display. „Man hat zu einem der Beiden etwas gefunden.“, fasst der Klon den Inhalt zusammen. „Zu meinem oder zu ihrem?“ „Zu ihrem.“ „Und was?“ „Er hat bis vor drei Jahren im Nietzsche gearbeitet.“ „Was ist das Nietzsche?“ Morgan grinste. „Sie werden es erleben. Das ist genau das Richtige für sie.“ Da wusste Maccachio bereits, dass er es hassen würde.
Dienstag, 17. September, 16.50: Das Nietzsche trug seinen Namen zweifelsohne zurecht. Die traurigen Reste menschlicher Existenzen, die dort im Delirium der Verdrängung zombieähnlich ihrem Ende entgegendämmerten, negierten wahrlich alles, das aus der Realität in ihr Wachkoma einzudringen trachtete. Nihilismus Narkotika am Ende der Philosophie. Maccachio und Morgan schritten die lange Treppe hinunter, welche sie einige Meter unter den Beton der Straßen und Gehwege hinab führte. Dort im trüben Halbdunklen, wo sich ätherische Dämpfe mit Zigarettenrauch und Alkoholgeruch vermischten, bewegten sich einige Körper lethargisch im Takt einer elektronischen Musik aus den Anfängen des Jahrhunderts, die mehr und mehr ihren Weg zurück in die Gehörgänge jener Menscher fand. „Wieso ist der Laden schon offen?“, wunderte sich Francesco. „Die meisten dieser Schuppen geben ihre Hallen doch erst nach Feierabend frei.“ „Um Arbeitszeiten zu beachten, muss man Arbeit haben. Die Kreaturen, die hier rumhängen kennen so etwas nicht. Ohne einen Sinn für Zeit scheidet sich das Leben für sie nur in Nacht und etwas weniger Nacht.“ Die goldenen Augen Hellweins erforschten mit dem Blick eines jagenden Raubvogels das zwielichte Innere. Maccachio war sich sicher, dass der Klon viel mehr sah als er. Bei den Katakomben des Nietzsche handelte es sich um einen ehemaligen Luftschutzbunker, wie der Mann aus dem Vatikan zumindest vermutete. Die Wände waren in einem Hochglanzschwarz gestrichen, welches an Latex gemahnte. Flankierend zur Rechten wie zur Linken der Tanzfläche befanden sich zwei kleinere Tresen, ein größerer geradeaus auf einer Anhöhe im Hintergrund. Viele Nischen und Einbuchtungen ließen die Halle wie ein Gruft erscheinen. Große von der Decke herabhängenden Vorhänge aus rotem Samt, sowie durchgesessene, ebenfalls rote Sofas und Couchgarnituren erweckten ein gewisses Gefühl von Behaglichkeit. Sie boten in regelmäßigen Abständen den Siechen einen Platz, ihren Rausch, gleich welcher Art, in aller Bequemlichkeit auszukosten. Die Beleuchtung war bedrückend schummrig. Holofackeln und dreidimensionale Feuer ließen orangerote Reflexionen auf dem schwarzen Glanz der Wände züngeln. Jeder Schritt führte die beiden weiter in der Untergrund der Stadt. Francesco spürte, dass diverse Blicke auf ihnen lasteten, obwohl niemand offenkundig zu ihnen hinüber sah. Aber sie waren dort Eindringlinge, und als solche wurden sie sofort erkannt. Selbst wenn Morgan in seinem schwarzen Dress noch als einer von ihnen durchgegangen wäre, so hätte man ihn mit seinem grauen Duster, der alten Jeans und den modernen Sportschuhen schon als Außenseiter erkannt, bevor er mit dem ersten Atemzug die abgestandene Luft jener menschlichen Müllhalde aufgenommen hatte. Und Außenseiter konnte hier nur eines bedeuten: Gefahr. Sein Partner marschierte zielstrebig über die verwaiste Tanzfläche auf den hinteren Tresen zu. Er selbst blieb an einer der Säulen am Eingang stehen. Von dort aus konnte Maccachio fast den gesamten Raum überblicken. Unauffällig wanderte seine Hand unter den Mantel und umfasst den Griff seiner Waffe. Er konnte sich eines unbehaglichen Gefühles nicht erwehren. Dieses Mal wollte er nicht darauf vertrauen, dass ihn die ersten Schüsse verfehlten. Der Klon hatte inzwischen sein Ziel erreicht, schwang sich auf einen Barhocker und zündete sich eine Zigarette an. Es dauerte nicht lange, dann schlich ein verwahrlostes Individuum, erbärmlich einen Barkeeper plagiierend, zu ihm hinüber. „Morgan.“, stellte der Junkie sachlich fest. „Was willst du?“ „Wo ist Karen?“ „Sie arbeitet heute nicht.“ „Hol sie her!“ „Ich sagte, sie arbeitet heute nicht.“, wiederholte der Mann hinter der Theke, während er seine Zigarette gelangweilt auf dem Tresen ausdrückte. Morgan wurde langsam ungeduldig. Bedrohlich lehnte er sich auf seinem Platz etwas vor. „Hör mir mal zu, Gumbo, oder wie dich deine bekifften Mongoloiden, die hier ihr jämmerliches Dasein fristen, nennen. Wenn ich jetzt selbst nach hinten gehe und dem versifften Fixer, der gerade seinen schrumpeligen Wurm in ihre pelzige Grotte schiebt, höchstpersönlich seine Klöten rausreiße, dann ist das bestimmt keine gute Publicity für den Laden. Got it?” “Schon kapiert. Mir hat ja keiner das Hirn getoastet.“ Morgan blickte in die trüben Augen, welche aus dem bleichen, eingefallenen Gesicht des Jungen ungefähr in seine Richtung starrten. Er war wahrscheinlich nicht älter als achtzehn. Dennoch konnte ihm wohl kein Arzt mehr eine allzu lange Lebensspanne prophezeien. Die Drogen hatten seinen Körper ausgesaugt wie ein Wüstenwanderer seinen Wasserschlauch. Der kümmerliche Rest der blieb, war zu wenig, um in den 70er Jahren zu bestehen. „Sicher, Einstein. Und nun beweg deinen Kadaver, bevor dich die Würmer auffressen!“
„Siehst gar nicht aus wie ein Cop, Kleiner.“, raunte eine rauchige Frauenstimme aus der Dunkelheit. Maccachio zuckte zusammen. Er hatte sich vollkommen auf Morgan konzentriert und dabei seine Peripherie sträflicher Unachtsamkeit anheim gegeben. „Ganz ruhig, wir beißen nicht, und wenn wir es täten, würdest du es wollen.“ Der Abgeschiedenheit einer kleinen Nische, welche Francesco zuvor noch als Gruft bezeichnet hatte, waren zwei Frauen entstiegen, die wahrhaftig so aussahen, als hätten sie das irdische Leben bereits hinter sich gelassen. Bleichgeschminkte Haut, aus welcher an allen Stellen die Knochen herauszustechen drohten. Abgemergelt wie der Tod, erinnerten sie an Pestkranke auf mittelalterlichen Holzstichen, die in Gewissheit des nahen Todes ihrer Erlösung harrten. „Du siehst aus, als könntest ein wenig Unterhaltung vertragen.“, hauchte die Eine. Sie hatte lange schwarze Haare, welche mit ihrem langen, gleichfarbigen Kleid zu verschmelzen schienen. Die Andere trug ein rotes Lackledertop und einen ebensolche Rock, der an der Seite weit aufgeschlitzt war, um freigiebig den Blick auf ihre langen Beine zu gewähren. Der studierte Theologe lenkte seinen Blick zurück auf die hintere Theke, wo Hellwein noch immer wartete. Die beiden Frauen ließen sich jedoch von seinem zur Schau getragenen Desinteresse nicht täuschen. Lasziv lehnte sich die Lady in Red mit dem Rücken an die Säule, hinter welcher er sich postiert hatte. Mit einem Lächeln winkelte sie ihr rechtes Bein an, so dass die Sohle der hohen Stiefel gegen den Pfosten gerichtet war. Ihr Rock offenbarte nun noch mehr des schlanken Oberschenkels. Unwillentlich betrachtete Francesco ihren fast weiß gefärbten Kurzhaarschnitt, unter dem zwei entschlossen funkelnde Augen die seinen fixierten. Dann wanderte sein Blick nach unten. Unterdessen hatte die andere ihr Kinn von hinten in seine Schulter gebettet und glitt mit ihren Händen seine Arme entlang. Scheinbar spürte jenes Wesen seine Verunsicherung. „Nervös?“, fragte sie leise. So leise, dass der studierte Theologe nicht wusste, ob er jenes gehauchte Wort wirklich vernommen hatte, oder ob es ein Streich seiner Phantasie gewesen war.
Morgan beobachtete die ganze Szenerie aus sicherer Entfernung und lächelte. Er genoss es zu sehen, wie Maccachio sich der Situation, die ihm sichtlich unangenehm war, auf möglichst galante Weise zu entziehen suchte. Solche Biester habt ihr in eurem Eunuchenstaat nicht, was?, dachte er bei sich. Just in jenem Moment hatte die Frau im schwarzen Kleid ihre Hand in tiefere Regionen des Glaubens sinken lassen, um entschlossen zum Kruzifix zu greifen. Hellwein musste sich beherrschen nicht zu lachen, als sein Partner die Hand behutsam entfernte und wohl gerade zaghaft protestierte. Leider konnte Morgan auf Grund der Musik nicht hören, was er sagte, doch konnte er es sich lebhaft vorstellen. Äh, entschuldigen sie gute Frau, aber ich glaube, das gehört mir. Oder: Dürfte ich sie freundlichst bitten, nicht an mir herumzufummeln. Ich meine, ich fühle mich ja irgendwie geschmeichelt. So oder so ähnlich würde er wohl klingen. Der Klon bedauerte fast, dass er im Augenwinkel Karen hereinkommen sah. Ohne sie zu beachten, stand er auf und setzte sich an einen Tisch direkt neben der Tanzfläche. Wenige Sekunden später ließ Karen ihren üppigen Körper in den gegenüberliegenden Stuhl sinken. „Was willst du von mir, Morgan?“ Sie sprach in dem monotonen Seufzen einer Drogenabhängigen, der soeben begann, in die graue Wirklichkeit zurückzukehren. „Ich habe dich doch nicht bei wichtigen Geschäften gestört, oder? Ich meine Vertragsverhandlungen oder große Galadiners.“ „Fick dich, Morgan. Was willst du?“ „Ich brauche einige Informationen über einen Mann, der mal hier gearbeitet hat. Sein Name ist Jakob Lienberg. Muss vier oder fünf Jahre her sein.“ „Du glaubst doch nicht im Ernst, das ich mich an jeden Junkie, der sich hier den goldenen Schuss verdient hat, noch kenne? Falls ja, dann haben dir die verfluchten Zigaretten wohl schon das Hirn zersetzt.“ Hellwein ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken, blies etwas grauen Dunst in die Schwärze der Halle und grinste. „Lass doch diese Spielchen, Karen! Ich weiß, dass du jeden kennst, der hier arbeitet oder gearbeitet hat. Was hast du dir auch sonst schon zu merken? Also sag mir schon, wo der Kerl jetzt wohnt, und ich schaue mal, wie lange gewisse Behörden nichts von dem erfahren, was du so in den hinteren Räumen tust.“ „Du bist ein falsches Arschloch, Morgan!“ „Verklag mich!“ Die aufgedonnerte Hure funkelte ihn unter einem Berg von Kosmetik aus zugekniffenen Augenschlitzen an. Dann bedeutete sie dem Klon ihr seinen Handgelenkcomputer zu geben. Sie tippte einige Buchstaben ein und reichte ihn dann wieder zurück. „Das ist seine letzte Adresse. Mehr weiß ich nicht.“ „Das soll mir vorerst genügen.“, sagte Morgan, ohne einen Blick auf das Display zu werfen. Er drückte die Zigarette auf dem Tisch aus und schnippte die Asche auf den Boden. Vor der Treppe entriss er Maccachio noch den Armen der Circen, um ihn hinter sich her die Treppe hoch zu schleifen. Francesco konnte eben noch ein „Hat mich gefreut.“ herauswürgen, dann standen sie auch schon wieder im sauren Regen der Straße.
Dienstag, 17. September, 17.43: Ein typischer Wohnblock. Typische Industriebaustoffe in fadem Selbstmordgrau. Typische Bewohner aus dem Niemandsland des Lebens. Trübe Bedeutungslosigkeit im Abseits des Alltages. Und natürlich ein Fahrstuhl. „Wissen sie, Morgan, langsam gehen mir diese Dinger echt auf den Geist.“ „Was für Dinger?“, fragte der Klon mehr aus Höflichkeit denn aus aufrichtigem Interesse. „Fahrstühle, Lifte, Rolltreppen. All so was halt.“ „Fein, ich warte oben, bis sie die Treppen zum 32 Stockwerk erklommen haben.“ „Der praktische Nutzen ist mir ja bewusst...“ „... dann nörgeln sie nicht.“ Maccachio schwieg ein wenig pikiert. Mit einem altertümlichen „Bing“ öffnete die Tür des Aufzugs. Hinter ihr knickte ein kleiner Korridor nach wenigen Metern links und rechts ab. Der kurze Blick auf die Appartementnummern verriet, dass sie nach rechts mussten. Diese Gegend war weit weniger heruntergekommen als das Ghetto, welches sie noch vor wenigen Stunden aufgesucht hatten. Dies zeigte sich auch in der Gestaltung des Gebäudes. Die Wände waren in Vanilleweiß gehalten, während ein erdbeerroter Zickzackstreifen für Abwechslung im Dekor sorgte. Der Boden wies deutliche Gebrauchsspuren auf, war aber nicht schmutzig. Vor Appartement 3215 blieben sie stehen. Der Name Laura Fadé leuchtete in Grün auf dem Display. Hellwein betätigte den Summer. Wenige Sekunden später öffnete sich eine kleine Klappe in der Tür, und das schwarze Objektiv einer Eingangskamera glotzte die beiden Männer mit elektronischer Penetranz an. „Morgan Hellwein, Polizei.“ Er hielt die UDSE- UniCard neben seine goldenen Augen und beobachtet dann geduldig, wie sich die Linse weitete. Vermutlich zoomte die Kamera auf die Karte, um die Netzhautidentifikationen zu vergleichen. Kurz darauf glitt die Eingangstür mitsamt der Kamera zur Seite. Laura Fadé war recht groß, ansonsten aber eher unscheinbar. Maccachio schätzte sie auf Mitte dreißig. Ob ihres unerwarteten Besuches schien die junge Frau ein wenig verwirrt, hatte sich doch wohl auf einen gemütliche Feierabend eingestellt, wie der ehemalige Agent des Papstes aus ihrer schlabberigen Freizeitkleidung schloss. „Dürfen wir hereinkommen?“, fragte Morgan mit aller Freundlichkeit, die er aufzubringen vermochte, denn sie standen noch immer in der Tür. Die Frau sah sie etwas unsicher durch ihre modisch getönten Brillengläser an, nickte dann aber. Mit einer zögerlichen Geste und der Andeutung eines Lächelns wies sie auf das Wohnzimmer, welches sich direkt neben der Eingangtür befand. Hellwein und Maccachio ließen sich auf einem äußerst weichen Wassersofa nieder, während Laura ihnen gegenüber auf dem billigen Plagiat eines Designersessels Platz nahm. Das Appartement war schlicht, aber mit Geschmack eingerichtet. Möbel aus Buchenimitat erweckten das Gefühl privater Geborgenheit. „Schön haben sie es hier.“, eröffnete Francesco das Gespräch. Sein Partner schien allerdings weniger an Smalltalk interessiert und kam sofort zum Thema. „Welches Verhältnis haben sie zu Jakob Lienberg?“, fragte er forsch. Die Frau schien einen Moment zu überlegen, wie viel sie sagen konnte und wie viel die beiden Männer vermutlich bereits wussten. Schließlich erklärte sie: „Ich... er ist mein Lebensgefährte.“ „Wohnt er hier?“ Laura Fadé sah Morgan misstrauisch an. „Warum fragen sie mich das?“ „Nun... Er ist tot.“ Maccachio war erschrocken, mit welcher Gleichgültigkeit der Klon dieses sagte. Er verhielt sich, als würde er ihr mitteilen, dass sie einen Strafzettel für überhöhte Geschwindigkeit erhalten hatte. Aber zu Francescos Überraschung verhielt sich die Frau auffallend gefasst. „Irgendwann musste das ja so kommen.“ „Er hatte sich in den letzten Monaten oder Jahren sehr verändert, richtig?“, bohrte Morgan weiter. Sie nickte. „Er gehörte einer religiösen Gemeinschaft an, die sich die Propheten der letzten Tage nennt.“ Sie nickte abermals, doch mittlerweile hatte sich ihre anfängliche Gefasstheit aufgelöst, und Tränen rannen ihre Wangen herab. Heftig schluchzend stand die Frau plötzlich auf und verschwand in einem der anderen Zimmer. Als sie wiederkehrte, hatte sie ein Taschentuch in der einen und ein dünnes Buch in der anderen Hand. Sie nahm ihren Platz wieder ein und reichte Morgan die kleine Hardcoverausgabe, der sie nach einem kurzen Blick an seinen neuen Partner weitergab. Maccachio las den Titel. „Prophetatio Dierum Ultimorum. Die Prophezeiung der letzten Tage.“ Morgan blickte ihn bestätigend an. „Vor einigen Tagen hat er diese Schrift von einer Versammlung mitgebracht.“, begann Laura zu erklären. „Es hat ihn in irgendeiner Form verändert. Er war aufgeregt und sprach von den Tagen, die kommen würden. Er sagte, die Zeit hätte uns eingeholt, und sie wären die einzigen, die das große Unglück noch verhindern könnten. Ich hatte den Eindruck, er wusste auch nicht so recht, was passieren würde, nur das es passieren würde.“ „Das stimmt mit unseren Beobachtungen überein.“, bestätigte der Klon. „Es tut sich etwas.“ Der Mann aus dem Vatikan hatte inzwischen begonnen sich der Lektüre zu widmen. Doch plötzlich hob er den Kopf und starrte Morgan an. „Hier geht es um das Evangelium nach Matthäus.“ „Na und?“ „Es geht um das Original!“ Maccachios Stimme klang zum Einen euphorisch zum Anderen entsetzt. „Noch mal: Na und?“ „Sie verstehen nicht. Es hieß in den alten kirchlichen Überlieferungen, Matthäus habe das Evangelium zuerst in hebräischer Sprache verfasst. Es gab aber nie einen Beweis für diese Legende. Aber die Priester der Sekte behaupten in dieser Schrift, jenes Evangelium gefunden zu haben. Und nicht nur das, sie schreiben auch von Fehlern in der griechischen Übersetzung. Wenn das wahr wäre, dann bedeutete das eine Sensation.“ „Und wie wahrscheinlich ist das?“, fragte Morgan von der Euphorie des Papstagenten leidlich genervt. „Wen interessiert die Wahrscheinlichkeit bei jenem geistigen Hort, der als Belohnung dem Suchenden winkt?“ Maccachio blätterte weiter gierig in dem Heft herum. Hellwein wandte sich indes wieder an die Lebensgefährtin des Verstorbenen. „Wie geriet Herr Lienberg an diese Organisation?“ „Es ist jetzt etwa vier Jahre her. Er arbeitete als Barkeeper im Nemesis und hat sich da wohl mit einem Gast über die Lage in der Welt sowie die nähere Zukunft unterhalten. Diese Person hat ihn dann angehalten, mit zu einem dieser Treffen zu kommen.“ „Was waren das genau für Treffen.“ Morgan zündete sich eine Zigarette an. Die missbilligenden Blicke Lauras störten ihn wenig. „Es sind Zusammenkünfte kleiner Gruppierungen dieser Sekte. Immer ein Priester und 30 bis 40 Anhänger. Zum Inneren der Organisation haben sie keinen Zutritt. Sie werden lediglich über aktuelle Dinge aufgeklärt. Dann wird in verschiedenen Zeremonien gebetet und der Gottesdienst geleistet.“ „Wo finden diese Treffen statt?“ „Das weiß ich nicht. Die Anhänger erhalten erst kurz vor Beginn eine Mitteilung, wann sie wohin kommen müssen.“ „Hat ihnen ihr Lebensgefährte jemals genau geschildert, was auf diesen Treffen vor sich geht?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, aber er wollte mich immer überreden, ihn doch einmal zu begleiten. Ich habe mich jedoch immer geweigert.“ „Warum?“ Morgan blies eine Dunstwolke in ihre Richtung. „Weil ich gesehen habe, wie ihn die Besuche dort veränderten. Er hat seinen Job gekündigt, weil er meinte, es wäre unnütz seine verbleibende Zeit so zu vergeuden. Außerdem ist er ernster geworden. Stets war er für die Propheten unterwegs und hat Aufträge erledigt, über die er nicht mit mir sprechen wollte.“ „Ich kann mir vorstellen, wie diese Aufträge aussahen.“, murmelte Maccachio vor sich hin, während er noch immer auf die theistischen Zeilen starrte. Morgan warf ihm einen kurzen Blick zu. Als er aber erkannte, dass der Jesuit ihn nicht wahrnahm, widmete er sich wieder der Wohnungseigentümerin. „Wovon hat er die ganzen Jahre gelebt?“ „Na, von mir.“, die Frau schnaubte verächtlich. „Aber lange hätte ich das nicht mehr mitgemacht. Das können sie mir glauben!“ Ein kurzes Schweigen zog von der gelben Sitzgarnitur über den Plexiglastisch bis hin zu der Staffelei, den Aquarellen und Ölgemälden, die an den Wänden hingen oder zu ihren Füßen lehnten. „Wie ist er gestorben?“, fragte Laura schließlich, als wäre ihr diese Frage soeben erst in den Sinn geschossen. Maccachio löste sich abrupt von seiner Lektüre, während Morgan antwortete. „Er hat das Feuer auf einen UDSE- Beamten eröffnet und ist in dem darauf folgenden Schusswechsel selbst zu Tode gekommen.“ Die Ausführungen des Klons waren ebenso sachlich wie gefühlskalt. „Ja, das habe ich ihm prophezeit. Aber er wollte die Pistole nicht ablegen. Er sagte, er brauche sie für seine Mission. Für seine heilige Mission.“ Die Frau brach in Tränen aus. „Es lohnt nicht, zu weinen.“, versuchte Morgan sie zu beruhigen. „Er hatte seine Seele und sein Herz längst der Sekte verpfändet. Sie waren für ihn nicht mehr als eine Goldgrube, die er auf der Suche nach Nuggets ab und an mal besteigen musste.“ „Morgan!“, fuhr Maccachio seinen Partner an, doch dieser beachtete ihn nicht einmal. „So ist es doch. Seien sie lieber froh, dass jetzt die offizielle Gelegenheit besteht, sich anderweitig umzusehen.“ Laura sah den Mann ihr gegenüber ungläubig an. Sein gefühlloses Auftreten hatte sie vollkommen überrascht. Diesen Moment hielt Francesco für den richtigen, die arme Frau wieder allein zu lassen. Er schlug das kleine Buch zu und erhob sich. „Vielen Dank für ihr Entgegenkommen, Frau Fadé. Sie brauchen jetzt sicher etwas Zeit für sich. Wir werden sie nicht weiter belästigen.“ Die goldenen Augen seines Partners fixierten den Mann aus dem Vatikan mit einem Hybrid aus Verwunderung und Ärger über die eigenmächtige Handlung. Jedoch erhob er sich ohne eine Äußerung des Missfallens ebenfalls vom Sofa und ging wortlos zur Tür. „Bitte verzeihen sie das flegelhafte Benehmen meines Partners, aber er... „... ist kein Mensch. Er hat keine Gefühle wie wir.“, setzte die Frau den Satz fort. Für einen Moment schwiegen beide. Darf ich das Buch vielleicht mitnehmen?“, fragte Maccachio, der nun allein mit ihr im Wohnzimmer stand. Der Jesuit hatte ein freundliches Lächeln aufgesetzt und hätte der Frau gern noch ein wenig zur Seite gestanden, doch wusste er, dass Morgan sich wohl kaum so lange geduldet hätte. „Ja, bitte. Nehmen sie das Buch mit. Und auch noch einige andere Dinge.“ Der Agent aus dem Vatikan horchte auf. „Was für Dinge?“ Laura Fadé ging hinüber zu einer Kommode und öffnete die untere Schublade. Daraus holte sie eine kleine Hartplastiktruhe hervor, etwa in der Größe eines Aktenkoffers. Mit einer dankenden Geste nahm Maccachio sie an sich. Morgan wartete inzwischen vor der Tür. Die Kippe seiner Zigarette hatte er auf dem Boden ausgetreten. Als Francesco zu ihm heraustrat, warf der Klon lediglich einen kurzen Blick auf die Beute, die der Papstagent mit sich brachte und schlenderte dann auf den Fahrstuhl zu.
Dienstag, 17. September, 18.15: Hellweins Züge wirkten nahezu gespenstisch im roten Schein der Digitaldisplays des Fahrzeugcockpits. Daneben bildete nur noch das Glimmen seiner Zigarette eine weitere Lichtquelle. Es war bereits dunkel geworden. Rasend schnell zog die Stadtautobahn unter ihnen dahin. Im regelmäßigen Rhythmus glitten die Lichtkegel der Straßenlaternen über die Windschutzscheibe und ließen die beiden Insassen des Wagens für kurze Zeit aus der Dunkelheit auftauchen. Der süßlich schwere Duft einer Nemesis lastete auf Maccachios Kopf und rief ein beständig anwachsendes Pochen hervor. Seit sie das Hochhaus verlassen hatten, war kein Wort gesprochen worden, doch plötzlich war es Hellwein, der unerwartet das monotone Surren des sonst kaum hörbaren Wasserstoffmotors durchbrach. „Was denken sie gerade?“, fragte er. Francesco blickte weiter geradeaus auf die gerade Straße. „Ich denke an die Worte Seilers. Die Welt braucht einen Messias, um die Gläubigen zu einen.“ „Ja?“ Die Stimme des Klons schien verständnisvoller als sonst. „Derjenige, der diesen Menschen auf seiner Seite hat, wird sie beherrschen.“ „Oder sie zerstören.“ „Macht ihnen das keine Angst?“ „Mehr als alles sonst.“ Wieder strömte das bedrückende Schweigen eines Momentes düsterer Visionen durch das Fahrzeug. Während dieser Zeit beobachtete Maccachio den Mann am Steuer, den er vor wenigen Stunden zum erstenmal getroffen hatte, sehr genau. „Irritiert es sie, dass ich Angst habe?“ Morgan blickte für einen Moment vom Fahrersitz herüber. „Ich bin nicht völlig emotionslos, auch wenn ich kein Mensch wie sie bin.“ Der Theologe aus dem Vatikan wusste nicht genau warum, doch er fühlte sich beschämt. Ohne etwas zu erwidern, sah er hinaus auf die finsteren Fassaden, die sich außerhalb des Laternenlichtes in den so angenehmen Schleier der Anonymität einer Megametropole hüllten. Wahrscheinlich war es nirgends leichter, sich seinen Mitmenschen völlig zu verschließen, obwohl man sie jeden Tag sieht. Womöglich war derjenige, der keine Gefühle preisgab, am sichersten vor der Grausamkeit jedes neuen Tages. Morgan lenkte den Wagen an der nächsten Abfahrt in Richtung eines kleinen Randbezirkes, nahe des Airports 7, wo die Polizeidirektion für Maccachio ein Zimmer gebucht hatte. Vor der noch aus dem 20. Jahrhundert stammenden Fassade des kleinen Mittelklassehotels hielt sein Partner an. „Ich werde mich noch um das verbleibende Aktenwälzen, wegen des kleinen Zwischenfalles heute Morgen, kümmern.“ Francesco nickte mit einem leichten Lächeln, und auch auf dem Gesicht Hellweins glaubte er die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. „Wir treffen uns um neun bei Genesis Enterprises for Neurobiological and Transmutational Existence Research. Ich will ihnen dort etwas zeigen.“ Dann schloss sich die hydraulische Beifahrertür und leise glitt der AIM »Cerberus« wieder in den geringen Verkehr auf der nachtschwarzen Straße.
Dienstag, 17. September, 20.31: Maccachio hatte noch kurz eine Kleinigkeit gegessen und sich an der Hotelbar einige Gläser 12 Jahre alten Scapa gegönnt. Nun saß er mit einem weiteren Glas des teuren Scotch Whiskys hinter dem kleinen Wohnzimmertisch seines Appartements in einem Sessel und sah sich wenig aufmerksam einen 2D- Film an. Der flache Kasten des Jakob Lienberg, den er von dessen Lebensgefährtin erhalten hatte, stand vor ihm auf dem Tisch. Gedankenverloren durchwühlte der ehemalige Agent vom Oculus Dei den Inhalt. Er fand einige kurze Schriften und Flugblätter der Propheten, ein Amulett aus Titan, sowie eine Schachtel Munition, in welcher jedes einzelne Geschoss mit einem durchgestrichenen Kreuz versehen war. Der Jesuit lehnte sich in seinem Sessel zurück und ließ die Ereignisse des Tages noch einmal vor seinem inneren Augen erscheinen. Schließlich erhob er sich und trat, das Glas in der Linken, hinaus auf den Balkon seines Zimmers. Es war kalt. In der Ferne zeichneten sich die Lichter jener verruchten Stadt ab, in der zehn Millionen Menschen verzweifelt versuchten, irgendwie eine Hoffnung für ihr Leben zu bewahren. Diejenigen, denen es auch nur annähernd gelang, konnten sich zu den Glücklichen zählen. Durfte man es ihnen verdenken, wenn sie für diese Hoffnung bereit waren, alles zu tun. Morgan hätte ihm jetzt gesagt, dass er selbst nicht anders, seine Sekte nur größer als die meisten anderen wäre. Francesco kehrte in seinen Sessel zurück und leerte das Glas mit einem Zug. Dann griff er wieder zu dem kleinen Buch und las noch einmal jene Stelle, welche er sich deutlich markiert hatte. „So kündet Matthäus vom Tode Jesu Christi: Die Finsternis herrschte im ganzen Land von der sechsten bis zur neunten Stunde, und die Erde bebte und die Felsen spalteten sich. Doch höret auch was geschah, als das Lamm das sechste Siegel auftat: Da entstand ein gewaltiges Beben, und die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand. So verheißt der letzte Atemzug des Sohnes Gottes jenes, das da geschehen wird, wenn er zurückkehrt auf Erden. Wie er ging, so wird er wiederkehren. Denn seine Worte, welche er zu seinen Jüngern sprach, da sie ihn auf dem Berge Galiläas, den er ihnen genannt hatte, sahen nach seiner Auferstehung, sind in der bisher gekannten Schrift des Matthäus von verändertem Gehalt. Dort spricht Jesus Christus: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende des Zeitalters. So jedoch gibt uns Matthäus Kunde in der alten Schrift über die letzten Worte Christi: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage am Ende des Zeitalters.“ Maccachio schlug das Buch zu und starrte durch das Fenster in die Finsternis hinaus. Ende
Anmerkung: Diese Geschichte spielt einige Zeit vor der eigentlichen Romanhandlung
C, 2003 by Andre Vieregge & Marten Munsonius
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